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Max Frisch - Andorra

[presse]


Ideologie statt Denken
von Kirsten Kronberg, Göttinger Tageblatt, 2. Mai 1998

Du sollst dir kein Bildnis machen: So steht es schon in der Bibel. Mit Bedacht formuliert. Denn nicht nur goldene Kälber haben sich Menschen im Laufe ihrer Geschichte immer wieder geschaffen, sondern auch Sündenböcke, Projektionen ihrer düstersten Vorstellungen, ihrer eigenen Vergehen, und sie ihrem guten Gewissen geopfert.
Max Frisch bearbeitete dieses Phänomen 1961 in seinem parabolischen Theaterstück "Andorra", das am Mittwoch im Göttinger Theater im OP Premiere hatte. Wie der Autor in seiner Vorlage, so interessiert sich auch Regisseur Hans-Jürgen Hannemann in seiner Inszenierung vor allem für zwei Dinge: wie sich das vorgefaßte, festgefahrene Bild von einem Menschen als tödliche Waffe gegen ihn richten kann und inwieweit die eigene Identität durch Vorurteile der Umgebung veränderbar ist.

Vermeintlich rettende Lüge
In dem Modellstaat Andorra gibt der Lehrer seinen unehelichen Sohn Andri als Juden und Ziehkind aus, um ihn vor dem Haß der Andorraner gegen die "Schwarzen" zu retten, zu deren Volk Andris Mutter gehört. Doch mit der wachsenden Abneigung auch gegen die Juden wird Andri immer mehr zu einem Außenseiter, der durch die Reden seiner Umgebung erst tief verstört, später zu einem überzeugenden Juden umgeformt wird. Die vermeintlich rettende Lüge des Vaters bringt ihn tragischerweise schließlich um.

Überzeugende Darsteller
Hannemann nutzt die Möglichkeiten des ThOP, läßt seine Darsteller von Anfang an mitten unter den Zuschauern agieren und vermittelt auf diese Weise nicht nur die Botschaft, daß "sie" unter uns sind, sondern vielmehr, daß wir zu ihnen gehören. Mit einer durchweg starken und überzeugenden Darstellertruppe führt er das Stück in einer zunehmend unheilvollen Atmosphäre dem unvermeidlichen Ende entgegen.
In den Dialogen zwischen Andri (ohnmächtig, aber stolz in der Falle zappelnd: David Halverscheid) und den Ortsbewohnern nimmt das Gefühl einer bedrohlichen Situation stetig zu. Verstärkt wird es noch durch das akustische Szenario von Michael Schneider und die eingeschobenen Monologe, in denen sich Andris Umgebung für das noch zukünftige Geschehen rechtfertigt.
Eindrucksvoll die Leistungen von Rolf-Dieter Franzen als von Schuldgefühlen geplagtem, aber um Mut bemühten Vater; von Maike Juterczenka (Barblin) als moderner, selbstbewußter, spröder junger Frau; von Klaus-Ingo Pißowotzki als jovialem, aber feigem Pater und von Dirk Böther als standhaft grinsendem Idioten - um nur beispielhaft ein paar Namen für eine insgesamt beachtliche Leistung zu nennen. Schön und vielseitig auch die Idee des riesigen Holzstuhles als Bühnenbild - ästhetisches Spiel mit Dimensionen und Assoziationen. Er fungiert als Richtplatz, Zufluchtsort, Liebesnest oder einfach Klettermöglichkeit und macht so die Körper der Agierenden zu mehr als bloßen Ideenträgern.
Hannemann gelingt es bis zum Schluß, die Inszenierung geradlinig und lebendig zu halten, ohne zu moralisieren oder in Formalismus abzugleiten. Und das, obwohl hier der abstrakte Gedanke einer geschlossenen Gesellschaft dargestellt wird, in der die Wahrheit nicht mehr überzeugen kann, weil die Ideologie das Denken abgelöst hat.


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