Moskau - Petuschki
- von Sam Shepard -

Jörg Kruse, Göttinger Tageblatt vom 25. August 1998


Reste einer Reise

Lavendel und Fußschweiß

"Alle wertvollen Menschen Rußlands haben gesoffen wie die Löcher." Das stellt Wenedikt Jerofejew irgendwann mittendrin fest. Mittendrin auf seiner Reise von Moskau nach dem Städtchen Petuschki, vom Hier in das Jenseits, von der Realität in das Delirium. Jerofejew muß einer dieser Menschen sein, denn sein Gepäck besteht aus einem Koffer, in dem sich ein paar Erdnüsse, jede Menge Schnaps und zwei Brote befinden. Die Erdnüsse sind für seinen kleinen Sohn bestimmt, der Schnaps für ihn selbst und die Brote helfen gegen das Kotzen. Sagt er zumindest.

Es ist eine merkwürdige Reise, auf die der russische Schriftsteller Wenedikt Jerofejew sein alter ego in dem Stück "Moskau - Petuschki" geschickt hat. Lauter seltsame Figuren bevölkern den Eisenbahnwaggon, doch vielleicht sind vom volltrunkenen Oberschaffner Semjonytsch bis hin zur sturzbesoffenen Frau mit Schnurrbart alle nur Ausgeburten von Jerofejews Phantasie. Da scheint es folgerichtig, daß der Theater-im-OP-Regisseur Thomas Müller das promille-beladene Poem auf ein Einpersonenstück reduziert hat.

So spielte Götz Lautenbach bei der Premiere am Sonnabend im Göttinger Apex gleich die ganze Galerie der Gestalten, die dem Reisenden begegnen. Je mehr der vom Inhalt seines Koffers verzehrt hat, desto mehr gerät die derbe Komödie zu einem sich überschlagenden Inferno. Als Wenedikt Jerofejew schließlich, von Engeln begleitet und vom Satan verfolgt, seinen Geist aufgibt, weiß er zwar nicht, ob er in Moskau, Petuschki oder sonstwo angelangt ist, sein Ziel hat er aber auf jeden Fall erreicht.

Reisen in eine andere Welt

Er hat den Beweis geführt, daß der Alkohol alle Bereiche des Lebens steuert und reglementiert, daß Cocktails aus Spritzlack, Lavendel, Anti-Fußschweißpuder und Limonade das Bewußtsein eines sinnlosen Daseins überwinden helfen und zudem gut gegen Selbstgefälligkeit und "oberflächlichen Atheismus" wirken. Was macht es da schon, wenn man sein körperliches Dasein nebenbei zerstört? Götz Lautenbach spielt den Reisenden in eine andere Welt überzeugend und pointiert, er wechselt die Rollen mit angemessener Ubertreibung, wohl wissend, daß es eigentlich doch immer ein und dieselbe ist. Nur das Abgleiten in das Inferno versucht er mit allzu theatralischer Gestik zu unterstreichen, als schleudere ihn eine unsichtbare Kraft wie einen Gummiball kreuz und quer durch den Raum. Die Zuschauer dankten den Einsatz mit starkem, aber nicht euphorischem Beifall. Doch das lag wohl mehr an der Schwere des Stückes. Ein Schnaps zur Verdauung war angebracht.

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